Wusstest du schon, dass…

der Anteil von Frauen in leitenden Funktionen immens wichtig ist? Viele Organisationen bemühen sich gegenwärtig darum, umfassende Reformen zur Gleichstellung der Geschlechter anzustoßen. So auch das Internationale Olympische Komitee (IOC). Doch es lohnt sich, einen Blick hinter die Zahlen zu werfen.

Ob Thomas Bach, Gianni Infantino, Sebastian Coe, Andrew Parsons, Fritz Keller oder Dr. Alfons Hölzl – wer an die Spitze nationaler und internationaler Sportverbände blickt, der sieht vor allem eines: Männer. Seit langem von vielen als Wurzel allen Übels identifiziert, ist die männliche Dominanz in der Welt des Sports womöglich nur das Resultat eines viel tieferliegenden Problems. Denn zukünftige Entscheidungsträger*innen werden häufig innerhalb der Organisationen und Institutionen ausgebildet, geprägt und emporgebracht. Dementsprechend ist es nicht nur wichtig, wer realistische Chancen auf eine solche Karriere hat, sondern auch, wer auf diesen Prozess Einfluss nehmen kann.

Doch warum sind Geschlechtergerechtigkeit und angemessene Repräsentation von Frauen in Führungs- und Machtpositionen so entscheidend? Dafür gibt es zahlreiche Argumente. Aus einer moralischen Perspektive lautet die Antwort: Weil es richtig und daher geboten ist. Aus einer rechtlichen: Weil Internationales, Verbands- und Verfassungsrecht Diskriminierung basierend auf der biologischen oder sozialen Geschlechtsidentität verbieten. Die organisationstheoretische Antwort: Weil Organisationen von Frauen, ihrem Führungsstil und ihren Kompetenzen profitieren.

Nur 25% der weltweiten Managementpositionen und nur 8,7% der Vorstandsposten in DAX-Unternehmen sind mit Frauen besetzt. Weshalb stellen Frauen, trotz der genannten Vielfalt an Argumenten, häufig noch immer eine Minderheit in Führungsetagen dar?  Zwei soziologische Theorien können dabei helfen, dies zu erklären: Die Theorie der homosozialen Reproduktion und die Theorie der kritischen Masse.

Erstere basiert auf einer recht simplen Idee: Gleich und Gleich gesellt sich gerne. Homosoziale Reproduktion, aus feministischer Sicht, beschreibt den Vorgang, wie Männer Machtstrukturen reproduzieren. In hegemonial männlich dominierten Kontexten werden, der Theorie zufolge, erwünschte Verhaltens- und Arbeitsweisen, Charakteristiken und Schwerpunktsetzungen von vorhandenen Netzwerken definiert. Dies wirkt sich auf die Beurteilung, Auswahl und Beförderung von Personal aus und führt in letzter Konsequenz zur Aufrechterhaltung des Status Quo. Ein Mangel an Repräsentation von Frauen, Minderheiten und Randgruppen mündet somit in einem Teufelskreis, der kontinuierlichen Reproduktion bestehender Strukturen.

Doch nicht nur die bloße Tatsache, dass Frauen in Entscheidungsgremien vertreten sind, ist entscheidend, sondern auch wie groß ihr Anteil ist. Dies lässt sich gut mir der Theorie der kritischen Masse veranschaulichen. Das Konzept wurde von einem physikalischen Vorgang inspiriert: Um eine nukleare Kettenreaktion zu starten, bedarf es einer notwendigen Menge an Spaltstoffen. Analog dazu betonen Soziolog*innen, dass die Größe einer Minderheit entscheidend dafür ist, ob innerhalb einer Organisation fundamentale Veränderungen möglich sind. In der akademischen Literatur wird häufig ein Anteil von 30% als kritische Schwelle genannt, ab der eine Gruppe zunehmend Einfluss nehmen kann. Menschliches Verhalten lässt sich selbstverständlich nur schwer mit dem Verhalten von Molekülen vergleichen. Ein automatischer Prozess ab einem bestimmten Prozentsatz ist daher nicht zu erwarten. Nichtsdestotrotz hilft die Theorie der kritischen Masse dabei zu verstehen, dass einzelne Vorbilder, besonders wenn sie nach außen hin nicht sichtbar sind, kaum ausreichen, um eine Organisationskultur nachhaltig zu verändern.

Genau diesen nachhaltigen Wandel wollte das Internationale Olympische Komitee mit der Agenda 2020, einem umfassenden Reformprogramm, einleiten. Eines der selbstgesteckten Ziele: Die Förderung der Gleichstellung der Geschlechter. Der kurze Blick in die Geschichte der olympischen Bewegung zeigt, dass diese Bemühungen längst überfällig sind. So dauerte es beispielsweise 87 Jahre bis die ersten beiden Frauen, Flor Isava-Fonseca und Pirjo Haeggman, 1981 als IOC Mitglieder gewählt wurden. Die Öffnung aller Sportarten für Frauen bei den Olympischen Spielen in London (2012) und ein Frauenanteil von 45 Prozent bei den Spielen in Rio de Janeiro (2016) wurden als große Erfolge gefeiert. Doch hinter der gläsernen Fassade des neuerrichteten Hauptsitzes des IOC in Lausanne verbirgt sich auch weit weniger Erfreuliches. So sind aktuell nur 36% aller IOC Mitglieder, im Executive Board nur 20%, weiblich. Der Präsident ist ein Mann und nur eine Frau findet sich unter den vier Vize-Präsident*innen. Zufall? Wohl eher nicht. Denn auch nur vier der knapp 30 Kommissionen werden aktuell von Frauen geleitet. Interessanterweise sind es zusätzlich Fachbereiche, die mit weniger finanziellen Mitteln ausgestattet sind, intern als zweitrangig angesehen und mit weiblichen Charakteristiken assoziiert werden (z.B. Frauen im Sport, olympische Erziehung, Sport und eine aktive Gesellschaft).

Wie bereits erwähnt, ist nicht nur Zugang zu den obersten Führungsgremien entscheidend, sondern auch die Präsenz in leitenden Funktionen im Allgemeinen. Basierend auf zwei Veröffentlichen, dem Gleichstellungsbericht (Gender Equality Report, 2020) und dem Nachhaltigkeitsbericht (Sustainability Report, 2018), wurde untersucht, inwiefern Frauen in verschiedenen Ebenen der Verwaltung repräsentiert sind. Das Ergebnis: Je weiter man innerhalb der Organisation nach oben geht, desto geringer wird der Anteil an Frauen. Sind sie in der unteren und mittleren Führungsebene noch in der Mehrheit (63%), so ändert sich dies auf der oberen Führungs- (38%) und auf der Vorstandsebene (25%). Zwei Haupterkenntnisse lassen sich davon ableiten. Erstens: Geschlechtergleichstellung in der Verwaltung wurde trotz der Reformbemühungen noch nicht verwirklicht. Zweitens: Die pyramidenförmige Verteilung legt nahe, dass Barrieren die Karriere von Frauen im IOC erschweren. Bei der Aufdeckung und Erklärung solcher Mechanismen können sich soziologische Theorien wie die der homosozialen Reproduktion oder der kritischen Masse als hilfreich erweisen.

Sowohl die Betrachtung der olympischen Strukturen als auch der Realitäten im Sport lehrt vor allem eines, nämlich, dass die zugrundeliegenden Probleme gesellschaftliche sind. Folglich ist institutioneller Wandel ohne soziales Umdenken unzureichend. Denn Einstellungen werden gelernt, Rollenbilder früh geprägt und Privilegien weitergereicht. Unterdrückungsmuster manifestieren sich in der Sprache, in der Art und Weise wie zwischen Mitmenschen und Kolleg*innen interagiert wird. Daraus erwächst die kollektive Verantwortlichkeit, Chancengleichheit auf allen Ebenen zu ermöglichen – nicht nur strukturell, sondern auch im alltäglichen Verhalten.