Frauen in Chile Tanzen als Protestform nutzen, um auf die prekären Lebensverhältnisse in ihrem Land hinzuweisen?
„Und es war nicht meine Schuld, weder wo ich war, noch wie ich gekleidet war. Der Vergewaltiger warst du. Der Vergewaltiger bist du.“ Gesungen von Hunderten von Frauen mit verbundenen Augen, die sich zu unzähligen Reihen formierten, ertönte auf der Plaza Italia in Santiago de Chile der Satz „un violador en tu camino“ (deutsch: ein Vergewaltiger in deinem Weg), der die aktuellen sozialen und politischen Proteste in Chile symbolisiert. Das Land befindet sich in einer stetigen Phase des sozialen Protests, welcher nicht nur zur Absage der UN-Klimakonferenz COP25 im Dezember führte, sondern auch jegliche Sportligen im Lande noch vor Ausbruch der Corona-Pandemie zum Stillstand zwang.
Im Oktober letzten Jahres entwickelten sich Studentenproteste gegen eine Fahrpreiserhöhung in der U-Bahn von Santiago de Chile von einer Welle friedlicher Demonstrationen zu gewalttätigen Ausschreitungen im ganzen Land, die bis heute andauern. Der so genannte „chilenische Frühling“ hat mehr als zwanzig Tote und Tausende Verletzte in der Zivilbevölkerung sowie unter den Sicherheitskräften gefordert. Eine Kombination aus Zugeständnissen, Reformen und Repressionen konnte die schwerste sozio-politische Krise seit der Rückkehr des Landes zur Demokratie im Jahr 1990 bisher nicht entschärfen. Gründe für die Proteste sind neben sozialer Ungleichheit und einem stark privatisiertem Bildungssystem auch die geschlechtsspezifische Gewalt und patriarchalische Strukturen, die fest in dem Land manifestiert sind.
Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist seit langem ein vorrangiges Thema für feministische Bewegungen in Lateinamerika und der Kampf für die Beendigung geschlechtsspezifischer Gewalt ist aktueller denn je. Gemäß den Vereinten Nationen (UN) kann Gewalt gegen Frauen als „jeder Akt geschlechtsspezifischer Gewalt, der Frauen körperlichen, sexuellen oder psychischen Schaden oder Leid zufügt oder wahrscheinlich zufügen wird“ beschrieben werden. Die Vereinten Nationen berichten, dass knapp 38 % der Frauen mindestens einmal in ihrem Leben Gewalt durch intime Partner erlebt haben. In Chile sind Frauen seit Jahrzehnten mit Gewalt und geschlechtsspezifischer Diskriminierung konfrontiert, die in allen Gesellschaftsschichten vorherrschend ist. Laut einer Studie der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik haben fünfzig Prozent der verheirateten Frauen eheliche Gewalt einschließlich physischer und psychischer Gewalt erlitten. Zu den kausalen Faktoren häuslicher Gewalt gehören neben kulturellen und gesellschaftlichen Faktoren auch wirtschaftliche Faktoren (insbesondere eine weit verbreitete Armut), die dazu beitragen, Frauen in einem Zustand der Unterwerfung zu halten.
Vor dem Hintergrund des chilenischen Frühlings ist das Kollektiv Las Tesis aus Valparaíso entstanden und hat eine weltweite feministische Bewegung initiiert. Ihre im Oktober 2019 begonnene Performance „un violador en tu camino“ wurde von Feministinnen in Lateinamerika, den Vereinigten Staaten, Europa, Australien sowie in asiatischen Ländern kopiert, übernommen und neu interpretiert. Gegründet von Dafne Valdés, Paula Cometa, Sibila Sotomayor und Lea Cáceres ist Las Tesis mittlerweile zum Aushängeschild des feministischen Protests geworden. Nach Angaben der Gründerinnen nutzt das Kollektiv die Aufführung, um feministische Theorien in die Öffentlichkeit zu übersetzen. Werke von Autorinnen wie der Anthropologin Rita Segato, die über sexuelle Gewalt als politisches Phänomen arbeitet oder der italienischen Feministin Silvia Federici inspirierten den Tanz. „Un violador en tu camino“ ist nicht nur eine Form der Populärpädagogik, die die Performance nutzt, um feministische Theorie zugänglicher zu machen, sondern stellt auch jene Form der Gewalt dar, die Frauen derzeit von Polizist*innen und Militärs auf der Straße erfahren.
Die Rolle der Frauen, des Feminismus und der Kunst nimmt in sozialen Protesten eine immer entscheidendere Bedeutung ein, wobei alle Forderungen auf einen Strukturwandel und eine Veränderung des Systems abzielen, in dem feministische Ansprüche eine entscheidende Rolle spielen. Der Feminismus kann einen Beitrag leisten, etwa bei der Neuorientierung der menschlichen Beziehungen. Die kreativen Formen des Protests etwa als Tanzperformance ermöglichten es, einen leichteren Zugang zu diesen tiefgründigen Botschaften zu erhalten und ein verbindendes Gefühl zu schaffen.
In der Zeile „es war nicht meine Schuld, weder wo ich war, noch wie ich mich gekleidet habe“ unterstreichen die Protestierenden ihr klares Bekenntnis gegen die in konservativen Kreisen in ganz Südamerika weit verbreitete Opfer-Schuldzuweisung, die den Opfern die Schuld für den erlebten Missbrauch gibt. Es ist nach wie vor gängige Praxis, eine Frau nach einer Vergewaltigung zu kritisieren, etwa mit der Behauptung, sie habe einen kurzen Rock getragen, oder mit der Frage, warum eine Frau um drei Uhr morgens alleine in einer dunklen Straße langlaufen würde. Human Rights Watch hat während der chilenischen Proteste die Misshandlungen durch die Polizei, einschließlich sexueller Übergriffe, dokumentiert. Die Verwendung von kurzen Kleidern in der Performance stellt die Machismo-Kultur in Frage, indem sie bewusst provokative Kleidung tragen und ihr Recht betonen, sich ohne Angst vor Angriffen oder sogar oben ohne zu tanzen, um so die Autonomie über ihren Körper zurückzuerobern.
Mittlerweile wird die Interpretation der Aufführung weltweit dem jeweiligen Kontext angepasst. Feministinnen in Kolumbien singen über den mangelnden Schutz durch den Staat und die Notwendigkeit, dass Freunde unabhängig von Geschlecht und Alter sich gegenseitig schützen müssen, während in Deutschland in den Texten an die internationale Solidarität appelliert wird. Laut Las Tesis sind diese unterschiedlichen Perspektiven eine große Bereicherung für ihre Arbeit. Die Aufführung ist bewusst interdisziplinär angelegt, so dass es möglich ist, sie an verschiedene Kontexte und Räume anzupassen. „Un violador en tu camino“ ist mittlerweile viral geworden, da Gewalt gegen Frauen ein globales Phänomen ist. Das Lied ist zudem universell, weil Belästigung, Ausbeutung, Vergewaltigung und andere Formen der Gewalt gegen Frauen allgegenwärtig sind. Die weltweiten Performances unterstreichen nicht nur die Solidarität mit chilenischen Frauen, die sich einer neoliberalen Krise und einem zunehmend autoritären Staat gegenüberstehen, sondern indizieren auch die zentralen Forderungen und Anliegen einer transnationalen feministischen Bewegung, die derzeit aus dem globalen Süden hervorgeht.
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