Ein Unfall mit Anfang 40 veränderte ihr ganzes Leben. Doch ein Grund zu hadern waren die neue Umstände für Dorothee Vieth nie. Stattdessen entdeckte sie durch ihre Frau eine neue Liebe: die zum Handbiken. Und ihr Weg sollte sie sogar bis zur Weltspitze führen.

Interview mit Dorothee

Hallo Dorothee. Magst du uns erstmal etwas über deinen sportlichen Werdegang erzählen?

Durch einen Verkehrsunfall mit Anfang 40 ist mir zunächst alles weggebrochen, was ich so an sportlicher Betätigung machte. Mal Joggen, mal Skaten, ab und zu Tennis, Snowboard im Winter, Windsurfen im Sommer und alle Wege in Hamburg mit dem Fahrrad. Alles rein auf Breitensportebene.

Durch meine Frau habe ich schon bald nach dem Unfall ein Handbike gehabt, zunächst die alltagstaugliche Adaptivbike-Variante, also ein Gerät, das man vorne an den Rollstuhl an- und abkoppeln kann. Mit dem habe ich nach zwei Jahren an einem ersten Rennen auf Breitensportbasis teilgenommen. Ich gewann und war mit dem Wettkampfvirus infiziert. Im nächsten Jahr habe ich mir dann mein erstes Racebike besorgt.

Woher kommt deine Liebe zum Sport?

Vor meinem Unfall bin ich sehr viel Fahrrad gefahren, zum einen, weil ich damit in der Regel in Hamburg schneller war als mit dem ÖPNV und auch nie einen Parkplatz brauchte. Zum anderen tat es mir gut, mich regelmäßig zu bewegen; ich habe das aber nicht als Sport aufgefasst. Handbiken ist mehr als ein Ersatz, es bietet mir eine wie für mich geschaffene Bewegungsmöglichkeit, ich kann mich da richtig auspowern. Und dann habe ich gemerkt, dass mir das strukturierte und geregelte Training gefällt ebenso wie der Vergleich mit anderen im Wettkampf.

Was motiviert dich?

Rund 80% des Trainings haben mir immer einfach Spaß gemacht, da bedurfte es keiner besonderen Motivation. Für den Rest ist es vor allem die Herausforderung von mir selbst, was kann ich wohl erreichen, was steckt noch in mir. Bringe ich, wenn ich es schaffe, das Training wie vorgesehen durchzuziehen, die prognostizierte Leistung im Wettkampf? Oder anders herum: Wenn ich es schaffe, das Training wie geplant durchzuziehen, dann werde ich schneller sein.

Die Qualifikation für die Paralympics und dann eine mögliche Medaille waren immer eine Extramotivation.

Gymnastik, Dehnen etc., den für mich immer eher langweiligen Teil des Trainings habe ich halbwegs regelmäßig aus der Einsicht in die Notwendigkeit heraus gemacht. Diesen mir unlieben Teil des Trainings habe ich tatsächlich auch jetzt nach Karriereende beibehalten, da ich ganz klar merke, dass ich mir so meine Beweglichkeit und somit Unabhängigkeit erhalte. Das ist eine ganz starke Motivation.

Was war dein größter sportlicher Erfolg?

Gold im Einzelzeitfahren bei den Paralympics 2016 in Rio.

Was ist das Besondere an deinem Sport?

Das Handbike ist für mich eine der besten Erfindungen. Ich weiß nicht, wo ich ohne das heute wäre. Ich bin draußen, kann mich auspowern, weite Strecken nur mit Armkraft zurücklegen, sehr hohe Geschwindigkeiten erreichen, stundenlang alleine durch die Natur gondeln, frei und unabhängig. Aber wenn ich Lust habe, kann ich mich auch mit anderen (Handbiker oder Zweiradfahrer) zu einer gemeinsamen Tour verabreden.

Wo sind die Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede für dich im Sport als Person mit Handicap?

Sich bewegen, alleine oder gemeinsam im Team trainieren, Spaß, Leidenschaft, Herausforderung, Wettkampf – ich glaube, da ist Sport für alle gleich, ob mit oder ohne Handicap.

Ein Unterschied für mich als Rollstuhlfahrerin ist, dass ich für fast jede Sportart ein extra Gerät brauche (Handbike, Sportrollstuhl, Sitzski etc.). D.h. als allererstes, dass ich nicht mal eben eine Sportart ausprobieren kann, sondern das gestaltet sich komplizierter. Kann ich z.B. ein Handbike, einen Tennisrolli oder einen Monositzski zur Probe ausleihen, stelle ich dann im Idealfall fest, dass ich diese Sportart von meinen körperlichen Voraussetzungen her gut ausüben kann, mag und weiterhin betreiben möchte. Möchte ich dann ein eigenes Gerät haben, heißt es nicht nur tief in die Tasche zu greifen (einfachste Sportrollstühle liegen z.B. bereits im vierstelligen Bereich!), sondern ich muss zuhause auch den nötigen Platz zum Unterstellen haben. Außerdem ist die Vereinsauswahl viel geringer, und das bringt mit sich, dass man zum Rollstuhlsport im Verein oft ganz schön weite Wege in Kauf nehmen muss. Und wenn man noch einen Sportrolli dabei hat, fallen die öffentlichen Verkehrsmittel auch oft weg.

Wie kamst du zum Parasport, vor allem auf Leistungssportlerin Niveau?

Wie ich schon sagte, hatte ich einen Verkehrsunfall mit Anfang 40 und dann zunächst ein Handbike für den Alltag. Damit bin ich zur Physiotherapie oder zum Einkaufen gefahren, alles Wege von 1-3 km. Immer öfter bin ich aber auch mal “einfach so“ losgefahren, und schon nach wenigen Monaten habe ich mit meiner Frau die erste kleine mehrtägige Radtour mit Übernachtungen gemacht. Dann machte uns ein Freund, mit dem wir vor dem Unfall gemeinsam geskatet waren, auf den Avacon-Skatermarathon Hannover-Celle aufmerksam, bei dem auch Handbiker teilnahmen. Zur Vorbereitung bin ich schlicht viel gefahren, von Training hatte ich keine Ahnung. Vor dem Start war ich aufgeregt wie Bolle und hatte größte Angst, dass ich so langsam wäre, dass mich der Besenwagen einsammelt. Völlig unbegründet: Am Schluss hatte ich die Adaptivbike-Wertung gewonnen und war infiziert mit dem Wettkampfvirus.

Also suchte ich mir im nächsten Jahr Stadtmarathons heraus, bei denen auch Handbiker am Start waren. Bei diesen Rennen sah ich Racebikes, sah, wie schnell ich mit meinem Adaptivbike im Vergleich zu denen war (etwa wie Hollandrad – Rennrad) und beschloss, mir so eines zu besorgen, um zu sehen, wie schnell ich damit wäre. Gesagt, getan, und ich war wirklich ziemlich schnell.

Ich bekam Kontakt zu einer Handbike-Trainingsgruppe, die es zu der Zeit in Hamburg gab. Nun fuhr ich einmal in der Woche in einer Gruppe, wo ich mir einiges an Fahrtechnik von alten Hasen abgucken konnte. Und Stefan Lange, der das Training anleitete, nahm mich unter seine Fittiche und machte mir Vorschläge für meine Trainingsrunden bis zum nächsten Treffen und für anstehende Rennen. So habe ich das Niveau erreicht, das mir Anfang 2006 die erste Einladung zu einem Trainingslager mit der Nationalmannschaft Paracycling brachte.

Wie war dein Weg zu den Paralympics und was waren deine Erfahrungen dort?

Die Einladung zur Nationalmannschaft hat mich sehr angespornt. Jetzt bekam ich von dort genauere Trainingspläne, die meinem Radeln Struktur gaben. Meine Leistung wurde kontinuierlich besser, ich kam der Weltspitze immer näher. Das hat wohl überzeugt, denn 2006 wurde ich zur WM mitgenommen. Für mich schon ein Riesenerfolg; zur Überraschung aller holte ich dann im Einzel-Zeitfahren Bronze. Ich merkte, dass dieser Sport, der wie für mich gemacht war, mich erfüllte und auf dem Weg war, wie ein zweiter Beruf für mich zu werden (wenn auch unbezahlt). 2007 konnte ich die Leistungen bestätigen. Ich fuhr konstant auf hohem Niveau und schaffte so 2008 die Qualifikation zu meinen ersten Paralympics. Zum Glück war meine Frau bereit, mein exzessives Hobby mit zu tragen, denn ganz klar, die Planung von gemeinsamer Freizeit und Urlaub waren in den Jahren des Leistungssports immer vom Handbike mitbestimmt.

Paralympics sind noch mal was ganz anderes als Weltmeisterschaften, allein schon, dass sie nur alle vier Jahre stattfinden. Zunächst muss man im Qualifikationszeitraum fit sein. Und dann ist es genau diese halbe Stunde an diesem einen Tag (in meinem Sport beim Einzelzeitfahren). Da ist meine Startzeit, da muss ich die Topleistung abrufen. Die nächste Chance gibt es vielleicht in vier Jahren. Im Vergleich dazu kommt die nächste Weltmeisterschaft schon im nächsten Jahr.

Mit welchen Vorurteilen hast du zu kämpfen, sowohl aufgrund deiner Behinderung als auch aufgrund deines Geschlechts? Wie reagierst du drauf?

Im Sport begegnen mir keine Vorurteile, eher Anerkennung/Bewunderung, z.B. dass ich mit Armkraft den Berg hoch radel oder im Rollstuhl Tennis spiele. Im Alltag ist das etwas anders. Recht oft werde ich als Rollstuhlfahrer irgendwie merkwürdigerweise nicht als vollwertiger Interaktionspartner eingestuft. Ich frage zum Beispiel einen Schalterbeamten etwas, geantwortet wird meiner stehenden Begleitung. Oder die Vorstellung / das Vorurteil, ich könne mich in und mit meinem Rollstuhl nicht eigenständig von hier nach dort bewegen. Was sich dadurch äußert, dass Menschen ohne zu fragen einfach die Griffe meines Rollstuhls  fassen um mich zu schieben. Mir gelingt es leider nur selten, geistesgegenwärtig mit einem treffenden Spruch zu antworten. Teilweise reagiere ich aggressiv, das passiert immer spontan, aber bringt ja nix. Da sind die Leute nur angepisst, sie sehen überhaupt nicht ihren Übergriff, denn sie wollten doch nur (ungefragt) helfen.

Wie hilft dir der Sport mit deiner Behinderung umzugehen?

Ich habe meine Behinderung von Anfang an akzeptiert, nicht damit gehadert. Ich bin aber schon seitdem unausgeglichener und teilweise genervt, weil vieles einfach länger dauert. Da ist das Handbike super – zwei Stunden Radeln, und alles ist gut. Rein praktisch hat sich durch meine Fitness ergeben, dass ich meinen Beruf (z.B. lange Proben als Geigerin) relativ uneingeschränkt weiter ausüben kann und völlig selbständig durch meinen Alltag komme.

Inwieweit schreibst du dem Sport eine inklusive Funktion zu?

Beim Radfahren und Skifahren bin ich für andere erkennbar behindert, aber da liegt der Fokus der Menschen weniger auf der Behinderung, sondern „Wow, so schnell nur aus den Armen“ oder „abgefahrenes Skigerät“. Sie trauen sich, mit bewunderndem Auge, mich anzusprechen, mal nachzufragen rein aus Neugier, aber auch viel im Sinne von: „Oh, das ist ja toll, dass es das gibt. Ich kenn da nämlich einen, der soll wieder unter die Leute kommen, für den wär das auch was. Wie heißt so ein Sportgerät, wo gibt es das?“ Wir kommen ins Gespräch und das baut Barrieren ab.

Was würdest du dir für den Parasport in Zukunft wünschen und wo siehst du Probleme?

Ein sehr viel größere Medienpräsenz wäre sehr wichtig. U.a. um die Chancen zu erhöhen, dass Sportler Werbepartner finden. Das Interesse der Leser und Zuschauer ist meiner Meinung nach da, aber Deutschland hat da das spezielle Problem Männerfußball.

1.  Männerfußball

2.  Männerfußball

3.  Männerfußball

Und unter ferner liefen alles andere…da bleibt nicht viel Platz  für Parasport oder andere Randsportarten.

Was wäre dein Tipp für andere?

Alter ist kein Grund, etwas nicht in Angriff zu nehmen

Danke für das spannende Interview!